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#06 - Mut zur Lücke

Kinder haben in den ersten Lebensjahren einen unglaublichen Forscherdrang. Mein Jüngster ist gerade 2. Zur Zeit höre ich mich fast täglich sagen: „Tu die Finger weg! Du darfst gucken! Aber man guckt nur mit den Augen! Nicht mit den Fingern!“
Dann und wann sind Kinderhände aber einfach zu fix. Nicht immer können Eltern ein Unglück verhindern …

NAME: Norbert
ALTER BEI VERLETZUNG: 13 Monate
DIAGNOSE: Verlust des Ringfingers

Fotografin: Norbert, deine rechte Hand hat nur 4 Finger. Was ist da passiert?

Norbert: Ich war etwas über ein Jahr alt. Meine Mutter nahm mich auf dem Traktor mit auf den Acker zur Kartoffelernte. Nachdem sie mich vom Sitz runter gehoben hatte, lief ich direkt nach vorne zum Motor. Dort bewegte sich was, das wollte ich mir genauer „ansehen“.
Meine Mutter konnte meine Hand zwar noch wegziehen, der Ringfinger meiner rechten Hand wurde aber durch den sich drehenden Keilriemen abgetrennt.

Fotografin: Mir fallen auf Anhieb einige Dinge ein, wo ein Finger zu wenig Probleme bereiten könnte: Als kleines Kind zählen lernen (an den Fingern abzählen), Klavier spielen, 10-Finger-System beim Schreibmaschine tippen … hast Du jemals einen Nachteil erlebt oder hat es Dich irgendwie blockiert, dass dir ein Finger fehlte? Hättest Du gerne etwas gelernt, was so nicht möglich war?

Norbert: Eigentlich hatte ich nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Ich bin mit 9 Fingern aufgewachsen, für mich war das normal.
Beim Zählen hab ich einfach die „Lücke“ mitgezählt. Das hat einwandfrei funktioniert. 😀
Auch Schreibmaschine schreiben hab ich für ca. 1 ½ Jahre in der Schule probiert. Welcher Finger diese Lückenaufgabe übernehmen sollte, dafür konnte ich mich nicht so recht entscheiden. Letztendlich funktionierte es ganz gut. Um „perfekt“ zu werden, wären aber einige Übungseinheiten mehr nötig gewesen. Diese Zeit schien mir aber verlorene Zeit zu sein.

Fotografin: Wie sind die Menschen um Dich herum damit umgegangen?

Norbert: Eigentlich immer gut. Ich kann mich nicht daran erinnern, deswegen gehänselt worden zu sein. Ab und an wurde ich darauf angesprochen – dann habe ich meine Geschichte erzählt. Vielen ist es dagegen über Jahre hinweg gar nicht aufgefallen.

Fotografin: Gibt es etwas, was Du den Menschen mit auf den Weg geben möchtest?

Norbert: Ich denke, wir sollten die Menschen so annehmen, wie sie sind – oder es wenigstens versuchen. Es gibt ja keine „Anderen“.

Ich denke noch über Norberts Worte und Erlebnisse nach. Ich bin froh, dass er nie etwas Negatives wegen seines fehlenden Fingers erlebt hat – und gleichzeitig erstaunt es mich. Warum werden die einen Menschen wegen einer „Äußerlichkeit“, vielleicht einer Andersartigkeit so mit Blicken und Worten gestraft? Andere wiederum mit Respekt angeschaut?
Ist es wie eine heldenhafte Kriegsverletzung? Ein Zeichen für Stärke, Tapferkeit, Unerschrockenheit? „Der mit dem Traktor kämpft.“

Hier ein fehlender Finger – da ein Chromosom zu viel. Beine, die sich nicht mehr bewegen lassen – Ohren, die zu weit abstehen. Schielende Augen – ein Spenderherz. Große und kleine Unterschiede.
Narben, Fehler, Makel? Das eine abstoßend, das Andere bewundernswert?
Jeder Mensch ist ein Unikat – würdevoll – wertvoll. Einzigartig.
Liebenswert. Bewundernswert.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Theoretisch.

Ich schließe mich Norbert an: Die Menschen so annehmen, wie sie sind! Das will ich üben. Das MUSS ich üben – jeden Tag aufs Neue.

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