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#07 - Vom Leben gezeichnet

In Japan gibt es eine einmalig schöne Tradition. Sie nennt sich Kintsugi.
Es ist die Kunst, zerbrochene Gefäße mit Gold wieder zusammen zu setzen und zu reparieren.
Dadurch entsteht ein wunderschönes, einzigartiges Muster. Die Japaner machen das, um die Schönheit des einstmals Zerbrochenen zu betonen und ihm einen ganz neuen Wert zu geben. In der Verletzung, den Wunden liegt eine Geschichte, die das Gefäß zu einem einmaligen Original machen. Die Spuren der Reparatur zeigen nicht das Ende, sondern einen essentiellen Moment in seiner Geschichte.

Michaela ist eine junge Frau, die in ihrem Leben viele dieser „Zerbrüche“ erlebt hat. Sie hat zahlreiche Narben – an Körper und Seele. Gemeinsam haben wir entschieden, ihre Narben mit Gold zu bemalen, denn sie ist einmalig, unverwechselbar und wunderschön.

NAME: Michaela
OP-ALTER: 26 Jahre
DIAGNOSE: Arachnoidalzyste (und viele andere OPs)

Fotografin: Michaela, ich weiß gar nicht, wo wir als erstes anfangen sollen. Vielleicht nehmen wir die Narbe an Deinem Bein. Was ist da passiert?

Michaela: Mein Hund Beau ist, als er 15 Monate alt war, beim Spielen mit einem anderen Labrador frontal in mein linkes Bein gerannt. Du kannst Dir das vielleicht vorstellen: 60kg mit voller Geschwindigkeit … Dies führte zu einer schweren Tibiakopffraktur, die mit Kunstknochen, L-Platte und 6 Schrauben „repariert“ werden musste. 10 Monate später kam das Metall wieder raus. Die große Narbe ist natürlich geblieben.

An unserem Shootingtag erzählt Michaela viel von ihren Hunden. Wir machen einen langen, ausgiebigen Spaziergang. Sie redet über den Dummysport, die Jagd, über die Therapiehunde-Ausbildung, die Beau genossen hat…
Ich bin tief beeindruckt davon, wie intensiv sie sich mit dem Charakter ihrer Hunde auseinandergesetzt hat und wie viel Zeit und Energie sie in die Ausbildung ihrer Hunde investiert hat. Nun, Zeit ist etwas, das sie seit Juni 2008 zur Genüge hat.
Damals war sie frisch verheiratet, lebenslustig, ein richtiger Workaholic, studierte Wirtschaftsinformatik mit internationalen Projekten, ständig im Flieger, stetig die Karriereleiter hochsteigend, mit Büro in Mailand … Das Leben lag offen vor ihr. Doch heftige Schmerzen im Wangenbereich plagten sie. Der Verdacht auf eine Nasennebenhöhlenentzündung konnte nicht bestätigt werden. Nach dem Messen der Hirnströme, die ebenfalls in Ordnung waren, wurde ihr noch zum CT geraten. Aufgrund Ihrer Auslandstätigkeiten sollte eine Hirnhautentzündung ausgeschlossen werden. Und von einem auf den anderen Tag war nichts mehr, wie es vorher war.

Michaela: Ich saß bei meinem Arzt im Wartezimmer und wartete auf die Ergebnisse des CTs. In Gedanken war ich schon in Mailand in meinem Büro. Am selben Tag noch sollte mein Flieger gehen. Viel liegen gebliebene Arbeit wartete dort auf mich, denn die vielen Arztbesuche der letzten Woche hatten unglaublich Zeit gekostet. Mein Arzt bestätigte mir, dass ich von einer Hirnhautentzündung so weit weg war, wie die Tatsache, dass es in den nächsten Sekunden mit Schneien anfängt und gleichzeitig 30 Grad im Schatten sind. Als im nächsten Schritt aber seine Stimme immer leiser wurde und er mir nur noch ein weißes Blatt Papier hinhielt mit ziemlich viel Ärztedeutsch, wurde mir doch etwas flau im Magen. Die Luft im Behandlungszimmer 2, aus dem ich eigentlich innerhalb von fünf Minuten wieder mit neuen Schmerzmitteln raus sein wollte, war so dünn, dass ich schon wieder Kopfschmerzen davon bekam.

„In der linken mittleren Schädelgrube findet sich eine 10×5 cm messende, raumfordernde Flüssigkeitsformation, bis nach frontal reichend mit Hypoplasie des linken Temporallappens und Pelottierung der Schädelkotte sowie Verschmälerung des linken Ventrikelsystems und geringgradige Mittellinienverschiebung.“

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Michaela: Ich habe einen Untermieter, eine Arachnoidalzyste. Sie muss schon als Kind da gewesen sein, denn mein linker Frontallappen ist gar nicht ausgebildet. Wenn Menschen so eine Arachnoidalzyste im Laufe ihres Lebens bekommen wird sie meist etwa haselnussgroß. Sie kann zu sprachlichen oder motorischen Ausfällen führen. Ich selbst habe diese Einschränkungen im Lernen nie erlebt.
Im Laufe der Jahre hat sie die linke Hirnhälfte so massiv zusammengedrückt, dass viele Dinge – entgegen der Norm – von meiner rechten Hirnhälfte übernommen wurden. Es war ein reiner Zufallsbefund, dass man diese übergroße Zyste entdeckt hat. Mein Leben hat sich dadurch schlagartig verändert. Ich durfte von einem auf den anderen Tag nicht mehr arbeiten, nicht mehr fliegen … Alles, was ich mir bis dahin erschaffen hatte, war plötzlich hinfällig. Eine OP brachte mir die Narbe am Kopf, die wir auf den Fotos zeigen. Die OP war leider völlig umsonst. Man versuchte, einen Teil der Flüssigkeit abzulassen, um den Druck und damit das Risiko eines Hirnschlags zu verringern. Aber bei diesen Ausmaßen der Erkrankung wusste Keiner so genau, was denn überhaupt möglich wäre. Wenige Monate nach der OP war alles so wie vorher. Die Zyste war wieder vollgelaufen. Und ich war keine strahlende, lebensfrohe Michaela mehr, sondern eine Frau ohne Zukunft, ohne Job und ohne Ehemann – denn die junge Ehe hielt diesen Herausforderungen nicht stand.

Wir reden lange über ihre zerbrochene Ehe, über die Verluste, über das, was einmal war. Noch weitere Narben kommen dazu. Eine OP wegen einer schweren Speiseröhrenerkrankung, ein Blindarmdurchbruch … Michaela scheint das Pech gepachtet zu haben. Und es wirkt fast, als wäre sie daran zerbrochen. Doch dann erzählt sie mir vom Jetzt. Von ihren Hunden. Ihrer Tätigkeit als Dozentin an der Hochschule, von ihren Freunden, ihrer Familie. Und von ihren neuen, so ganz anderen (Lebens)Projekten. Von ihrem Musikprojekt „Michaela´s Soundgarden“. Von den wöchentlichen Waffelabenden. Und im Laufe unseres gemeinsamen Tages strahlt sie immer mehr. Und das Gold, das in ihrem Herzen ist, strahlt durch die Risse und Narben hindurch und machen aus ihr einen wunderbaren, einmaligen Menschen, der etwas vom Leben versteht.

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