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#16 - Schrei nach Liebe

Sigrun steht vor meiner Kamera. Sie wird begleitet von ihrem Mann, der sie liebevoll in die Arme schließt. Dass sie stehen und sich normal bewegen kann ist nicht selbstverständlich. In der Mitte ihres Rückens verläuft eine lange Narbe, die weit bis über die linke Pobacke reicht. Sie stammt von einem missglückten Suizidversuch. Bei einem Sprung aus dem Fenster brach sie sich zwei Rippen, außerdem Lendenwirbel drei und vier, ihr Steißbein wurde zertrümmert und ihre Nase gebrochen.

NAME: Sigrun
OP-ALTER: 25 Jahre
DIAGNOSE: Erschöpfungsdepression mit Suizidversuch

Sigrun: Während der Operation wachte ich im Operationssaal einmal auf. Mein erster Gedanke war: Ich habe überlebt!

Sylvia: War es ein Gedanke der Erleichterung, oder ein schrecklicher Moment?

Sigrun: Ich fand es schlimm. Ich wollte ja nicht leben!

Meine Vorgeschichte ist lang und schmerzlich. Die Einzelheiten möchte ich nicht erzählen. Aber sie trieb mich dazu, dass ich immer auf der Suche nach Liebe und Angenommensein war. Irgendwann dachte ich, ich hätte endlich die Erfüllung in meinem Freund gefunden. Meine Gedanken hatten nur ein Thema: Er muss mich heiraten. Nur noch ein Ziel peilte ich an. Ein Brautkleidergeschäft in der Nähe seiner Arbeitsstelle in Stuttgart war die beste Adresse für meinen Plan. Ausgesucht hatte ich das Kleid sehr schnell – ein Traum in weiß. Stolz sah ich im Brautgeschäft in den Spiegel. Da meine Erwartungshaltung sehr groß war und ich mit meinem Freund über unsere gemeinsame Zukunft nicht viel sprach, wagte ich jetzt den Schritt nach vorne. Doch er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, mich zu heiraten. Von nun an wurde unsere Beziehung sehr schwierig …

Dazu kam, dass meine Oma ungefähr in derselben Zeit verstarb. Zur Beerdigung kamen wir zu spät zum Friedhof. Der Sarg mit geschlossenem Deckel ging an mir vorbei – und in mir zerriss es mein Herz. Meine geliebte Oma lebte nicht mehr. Mein bester Freund wollte mich nicht heiraten. Diese zwei Tatsachen drückten mich in eine unglaublich düstere Stimmung, die bereits Anfang März ihren Anfang nahm.

Sigrun: Kaum 6 Wochen später ging es mir dann so schlecht, dass keine Kraft mehr da war, um zu leben. Meine Gedanken kreisten ständig um die bestehenden Probleme – kein Job, keine Oma mehr und einen Freund, der mich nicht heiraten wollte. Ich kam mir selbst extrem unwichtig vor. In meiner Einraumwohnung verbarg ich mich wie in einer Höhle. In mir drin kämpfte es, ich fand das Leben nur noch schwer und nicht mehr lebenswert. Die Stimmen und Ratschläge der Familie und von anderen erreichten mich nicht mehr.

Pfingsten 1996 hatte ich absolut keine Kraft mehr. In mir drin trieb meine erste Depression mich immer weiter in ein dunkles Loch. Für mich gab es keinen anderen Ausweg, als aus dem dritten Stock zu springen. Ich landete unsanft auf dem Betonboden der Kellertreppe. Meine Mutter wachte sofort auf – ich musste wohl laut geschrien haben. Sie war die erste, die mich unten auf der Kellertreppe fand. Die eintreffenden Sanitäter brachten mich ins nächstgelegene Krankenhaus.

Ein Arzt sagte mir später, dass ich nur knapp einer Querschnittslähmung entgangen bin.

Sylvia: Ich bin sehr froh, dass Du heute hier so augenscheinlich fröhlich und vor allem beweglich vor mir stehst. Was für eine Bewahrung! Was hat sich seit dem Sprung verändert? Wie geht es Dir heute?

Sigrun: Zurückblickend kann ich nur staunen über meinen bisherigen Lebensweg. Ich bin Christ und für mich ist es ein unglaubliches Geschenk, dass Jesus mein Leben bewahrt und grundlegend verändert hat. Keinen Tag lässt er aus, um mich zu heilen und zu leiten.

Und irgendwann kam dann doch noch der eine Mann, der mir genau das gegeben hat, wonach ich so lange suchte: Liebe und Wertschätzung. Seit fast zehn Jahren bin ich nun glücklich verheiratet.