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#18 - Verletzt

Heute muss ich – aus rechtlichen und gesellschaftlichen Gründen – mit einer Triggerwarnung beginnen.
Ihr wisst ja, hier geht es nicht darum, Narben zur Schau zu stellen, oder gar zur Selbstverletzung zu ermutigen.
Wenn Du zu Selbstverletzung neigst, oder dieses Thema dich triggert, verlasse bitte diese Seite.
Bei der NummerGegenKummer kannst Du Dir Mo bis Sa von 14 – 20 Uhr Hilfe holen: 116 111

Außerdem ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr für Dich erreichbar: 0800-1110111

Heute erzählt Stephanie ihre Geschichte. Ich finde sie super mutig und weiß, beim Projekt teilzunehmen ist ein Schritt auf dem Weg ihrer Heilung. Viele kleine und große Schritte ist sie schon gegangen. Es war ein steiniger Weg mit hohen Hochs und noch tieferen Tiefs. Aber lest einfach selbst …

NAME: Stephanie
ALTER DER NARBEN: zwischen 4 bis 20 Jahre
DIAGNOSE: Borderline-Syndrom und Selbstverletzendes Verhalten (SvV)

Sylvia: Stephanie, wie genau nennt sich Deine Erkrankung?

Stephanie: Ich habe mich seit meinem 14. Lebensjahr (also seit ca. 26 Jahren) selbst verletzt. Teilweise aber mit großen „stabilen“ Phasen. Der letzte Vorfall war im Frühjahr 2019. Vor ca. 20 Jahren habe ich die Diagnose bekommen: Borderline-Syndrom/SvV.

Sylvia: Wie kam es dazu? Erinnerst Du Dich noch, wie Deine Geschichte losging?

Stephanie: Nein, so richtig kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass „auf einmal“ ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik bevor stand. Das ist nun ca. 20 Jahre her. In dieser Klinik habe ich auch zum ersten Mal eine Diagnose bekommen.

Sylvia: Kannst Du heute Auslöser benennen, die zum selbstverletzenden Verhalten geführt haben könnten?

Stephanie: Vor den Verletzungen war ich immer voller Selbsthass. Ich wurde in der Schule stark gemobbt. Ich glaube, dass dieser Selbsthass eine Folge des Mobbings war. Ich konnte dadurch vermutlich kein richtiges Selbstbewusstsein aufbauen.
Bei kleinsten Fehlern in der Schule (und später in der Ausbildung) wurde das Mobbing noch schlimmer. Vielleicht habe ich es deshalb so gehasst, Fehler zu machen. Blöderweise geht dieser „Hass“ nicht auf die, die mich damals fertig gemacht haben, sondern auf mich selbst.
Sobald ich Fehler gemacht habe oder nicht so funktioniert habe, wie es gewünscht war, habe ich mich dafür gehasst.
Oder wenn die Vergangenheit (mal wieder) zu stark „angeklopft“ hat und ich dann entsprechend psychisch „neben der Spur“ war. Auch das führte 2019 zu einem sehr extremen Selbsthass und dann auch zu entsprechender Selbstverletzung. Ich wollte mich sozusagen damit bestrafen.

Sylvia: Wie geht es Dir heute mit Deinen Narben?

Stephanie: Es kommt auf die Jahreszeit drauf an.
Immer im Frühjahr beim Wechsel von Pullover/Sweatshirt zu T-shirt schäme ich mich sehr für meine Narben. Bis vor wenigen Jahren bin ich deshalb ausschließlich langärmlig unterwegs gewesen. Inzwischen kann ich meine Narben als einen Teil meines Lebens einigermaßen akzeptieren und auch „zeigen“.

Sylvia: Wie reagieren andere Menschen auf Deine Narben?

Stephanie:
Wenn ich Glück habe, kommen nur komische Blicke. Wenn ich Pech habe, wird nachgefragt. Dafür hatte ich dann verschiedene Ausreden parat, was da passiert ist. Je nachdem, wer mich das fragt bzw. was in der Situation passt. Die meisten sind erschrocken von den vielen Narben. Gerade durch die Verätzungen sind es eben auch großflächige Narben. Selbst Ärzte reagieren sehr unterschiedlich. Viele sind immer noch der Meinung, man will mit den Wunden bzw. Narben nur Aufmerksamkeit bekommen. Die Probleme werden dann bagatellisiert und nicht ernst genommen.

Sylvia: Was mich als Mutter einer bald 13jährigen Tochter beschäftigt: Ich glaube (ist das tatsächlich so?) dass ja hauptsächlich Mädchen betroffen sind. Woran meinst du, liegt das?
Kann das an den zu hohen Erwartungen, auch an den Schönheitsidealen liegen, die uns als lebens- und liebenswert suggeriert werden? Können wir etwas tun, um unsere Kinder zu schützen? Oder ist es einfach eine Krankheit (Borderline) und wenn sie ausbricht, hat man eh keine Chance?

Stephanie: Selbstverletzung ist tatsächlich in erster Linie ein Frauenthema. Jungs/Männer reagieren eher mit offener Aggression, daher wird es bei Jungs auch oft nicht richtig (bzw. gar nicht) diagnostiziert.

Borderline ist nicht einfach eine Krankheit, die plötzlich ausbricht, sondern sie entwickelt sich mit der Zeit. Ganz wichtig: Selbstverletzung ist nicht automatisch Borderline und andersrum. Selbstverletzung (bzw. im Fachkreis heißt das Selbstverletzendes Verhalten) KANN ein Symptom von Borderline sein. Es kann aber auch was ganz Eigenständiges sein. Andersrum kann jemand Borderline haben, sich aber nie selbst verletzen. Dafür andere Punkte haben, die auch zum Borderline-Syndrom gehören.

Mit einer richtigen Therapie, einem liebevollen Umfeld, in dem man so akzeptiert wird, wie man ist, kann man mit der Krankheit leben, sich Strategien aneignen, die einem dabei helfen, einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Eine gute Bindung zum Kind ist essentiell. Wenn das Kind weiß, dass es mit jedem Problem zu den Eltern kommen darf, können spätere Probleme zumindest reduziert werden. Eine wirkliche Heilung von Borderline gibt es aber nicht.
Man kann durch Therapien lernen, damit umzugehen, sodass die Symptome weniger werden bzw. in den Hintergrund verschwinden.

Sylvia: Was möchtest Du den Menschen für Ihr Leben mit auf den Weg geben?

Stephanie: Das Wichtigste sind die richtigen Menschen an der Seite. Ohne meine Freundin würde ich bis heute wohl noch nicht im T-Shirt draußen sein können.

Sofern es irgendwie umsetzbar ist – geh den Weg, der für dich der richtige ist. Ich hatte 2019 die große Chance, mein Leben komplett zu verändern. Das war der „Schlüssel“ zu dem, dass ich seit 2020 sagen kann, dass ich nun stabil genug bin. Wenn die Psyche endlich zur Ruhe kommen darf, kann sie auch stabil werden.

Versucht, die Narben zu akzeptieren und nicht zu verurteilen. Niemand hat sich das Leben mit Narben ausgesucht, sondern es ist immer eine Verkettung ungünstiger Umstände.