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#27 - Große Geschichten

Seit ihrem 6. Lebensjahr leidet Heike an Neurodermitits und muss sich täglich eincremen. Als sie 15 wird, entdeckt sie das erste Mal geschwollene Lymphknoten. Diese taten nicht weh, sie waren einfach da. Der HNO-Arzt ließ einen Lymphknoten operativ entfernen und untersuchen. So beginnt ihre erste von 4 großen Geschichten.

NAME: Heike
OP-ALTER: 15, 16, 44, 51
DIAGNOSE: Morbus Hodgkin Stadium llla; Myom in der Gebärmutter; Beidseitige Brustreduzierung; Streptokokken Sepsis

Heike: Der Lymphknoten war gesund. Allerdings hatte ich im laufenden Jahr später Schmerzen im Brustbereich und in der linken Seite. Da mein HNO-Arzt nach ständigen Blutentnahmen nur wusste, dass etwas nicht stimmt, aber keine Schritte eingeleitet hat, sind wir zum Hausarzt gegangen. Dieser hat einen Ultraschall meiner linken Seite gemacht und mich sofort auf die Infektionsstation ins Krankenhaus überwiesen. Ich erinnere mich, dass ich an meinem 16. Geburtstag ins Krankenhaus eingewiesen worden bin. Dort hatte ich mehrere Untersuchungen und zwei Operationen. Eine am Hals, um nochmals Lymphknoten zu entfernen. Und dann stand es fest: Ich hatte eine bösartige Erkrankung des lymphatischen Systems, umgangssprachlich wird es auch Lymphdrüsenkrebs bezeichnet. Der Krebs hatte sich schon vom linken Hals, über den Brust- und Bauchraum bis hin zur rechten Leiste ausgebreitet. Es stand eine größere OP an, um das volle Ausmaß festzustellen. Die Narbe geht quer über meinen Bauch. Meine gesamte Bauchmuskulatur wurde durchtrennt und die Heilung der Narbe war nicht so einfach. Heutzutage wird das nicht mehr so gemacht.

Fotografin: Wir sitzen heute hier, machen Fotos von Dir. Du bist jetzt 55 Jahre alt. Du hast diese Krebserkrankung offensichtlich überstanden. Und im heutigen Rückblick kann man das aufgrund der Menge Deiner Erkrankungen und OPs schnell abhandeln. Aber damals, mittendrin, war das sicher eine große Herausforderung. Wie hat diese Erkrankung Dein Leben verändert und weiter bestimmt?

Heike: Wieder auf die Beine zu kommen war ein langer Weg. Allein die Bewegungen wieder zu „erlernen“, mich aufrecht zu halten … Ich wusste, ich habe eine schlechte Bauchmuskulatur. Aber damals war das nicht wie heute, dass man dann viel mit Physiotherapie trainiert hat. Mit 16 bzw. 17 ist man einfach froh, mit 30% Heilungschancen den Krebs überlebt zu haben. Die Krebserkrankung hat damals nicht nur mich, sondern meine ganze Familie verändert (Eltern, Schwester und Oma). 1986 war Krebs kein öffentliches Thema, wie es heute ist. Damals war Krebs noch relativ unbekannt und ich habe immer nur mitbekommen, dass wieder jemand an Krebs gestorben ist. Für mich war die Diagnose Krebs ein Todesurteil. Durch einen sehr guten Professor habe ich den Kampf aufgenommen und gewonnen.

Eine kleine „Last“ ist mir geblieben: seit der OP 1986 habe ich keine Milz mehr. Sie musste während der Bauch-OP entfernt werden, da sie nicht mehr zu retten war. Die Milz spielt eine wichtige Rolle für das Immunsystem: Das kleine Organ ist an der Bildung, Reifung und Speicherung der Lymphozyten beteiligt – einer Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die wichtig für die Abwehr von Krankheitserregern sind. So musste ich schon immer aufpassen und bekomme seitdem alle nur denkbaren Impfungen.

Fotografin: Du hast dann viele Jahre Ruhe gehabt, bevor der nächste Schock kam?

Heike: Ich bin mit Ende 39 in meine Wechseljahre gekommen und hatte Schmierblutungen und Schmerzen im Unterleib. Bei einer Untersuchung wurde ein gutartiges Myom entdeckt, welches sich bereits mit der Gebärmutter verwachsen hat.

Durch meine Krebsvorerkrankung habe ich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit als Spätfolge wieder einen Tumor zu bekommen. Die Ärzte und ich haben lange darüber gesprochen und wir sind uns einig geworden, dass sowohl die Gebärmutter mit dem Myom, als auch die Eierstöcke entfernt werden. Ich war sehr angespannt. Was ein Glück, hatte ich einen tollen Arzt, der sich in meinem Bauchraum Millimeter für Millimeter vorgearbeitet hat und ich so nur 4 kleine Narben am Bauch dazubekommen habe.

Zuerst hatte ich Angst, dass ich mich nicht mehr als vollständige Frau sehe, aber das ist glücklicherweise nicht eingetreten. Am Ende hat die Freude überwiegt, dass die Schmerzen weg waren und ich keine unkontrollierten Blutungen mehr hatte.

Fotografin: Die dritte große Operation war deine eigene Wahl, nämlich eine beidseitige Brustreduzierung. Magst Du uns davon erzählen?

Heike: Durch meine frühen Wechseljahre mit 39 Jahren hat sich mein Körper sehr verändert. Neben den klassischen Hitzewallungen und Schweißausbrüchen und psychischen Herausforderungen habe ich auch 20 kg zugenommen. Ich habe vieles versucht, um wieder abzunehmen, aber das hat alles nicht so richtig funktioniert. Was mich extrem belastet hat, war, dass meine Brust sich ebenfalls mit vergrößert hat. Ich habe mich dadurch nur noch als Brust gefühlt. Alle starrten auf meine Brust. Ich bekam Komplexe, Hals- und Rückenschmerzen. Beim Sport tat mir die Brust weh, wenn es heiß war, bekam ich Ausschlag in der Brustfalte… Es war ein einziger Alptraum für mich. Dann kam noch die Info aus Krebsstudien, dass Frauen, die zwischen 9 und 18 Jahren an Morbus Hodgkin erkrankt waren und im Brustbereich bestrahlt worden sind, ein 2,5 fach höheres Brustkrebsrisiko haben. Zu der Zeit war gerade Angelina Jolie mit ihrer Brustentfernung in den Medien. Ich habe mit meinen Ärzten wieder lange über das Thema gesprochen und wir haben uns dafür entschieden, eine beidseitige Brust-OP durchzuführen: Auf die Größe, die ich früher hatte, damit es wieder zu meinem Körper passt.

Fotografin: Hattest Du nicht Angst, dass etwas schief gehen könnte? Dass es optisch nicht gut wird, oder dass das Gefühl in der Brust verloren geht?

Heike: Tatsächlich habe ich mich zum ersten Mal auf eine OP gefreut, da ich wusste, dass mir die Veränderung eine optische und psychische Verbesserung versprachen. Die OP ist gut verlaufen, allerdings ist es auch sehr schmerzhaft gewesen. Ich weiß nicht mehr, wie lange das alles gedauert hat, bis ich wieder meine Arme voll bewegen konnte, ohne dass es irgendwo geschmerzt hat. Einen Nachteil gibt es tatsächlich. Beim Versetzen der Brustwarze kann es dazu kommen, dass das Gefühl nach der OP nicht mehr zurück kommt. Das ist bei mir eingetreten. Aber für mich überwiegen die Vorteile. Ich freue mich beim Blick in den Spiegel, bei allen sportlichen Aktivitäten, beim Kaufen von Kleidung, beim auf-dem-Bauch-liegen im Bett, und vieles mehr, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Ich bin an der Entscheidung gewachsen und habe ein stärkeres Selbstwertgefühl bekommen. Und ich kann nur jede Frau ermutigen. Wer auch immer sich mit einer großen Brust quält: Sprich mit deinen Ärzten, mit deiner Krankenkasse (Übernahme der Kosten wegen gesundheitlichen Problemen), mit deiner Familie / Partner / Partnerin. Eine Freundin von mir hat sich von meiner Begeisterung anstecken lassen und hat auf eigene Kosten eine Brustreduktion gemacht. Ihr geht es genauso wie mir: Wir verstehen nicht, warum wir so lange damit gewartet haben.

Fotografin: Wir kommen zu Deiner letzten OP und damit gleichzeitig zu Deinem größten Thema, dem Du Dich seit Deiner Erkrankung widmest. Deine Sepsis. Du hast einen sehr aktiven Instagram-Kanal zu dem Thema, Du hast ein Buch geschrieben … Warum ist dieses Thema so viel gewichtiger als die Anderen?

Heike: Eine Sepsis ist Vielen so unbekannt – mir damals auch – und doch so gefährlich. Die Sepsis hat die dritthöchste Sterberate in Deutschland. Sie ist ein Notfall wie Schlaganfall und Herzinfarkt. Leider kennen die meisten Menschen die Symptome gar nicht oder sie leben immer noch in dem Irrglauben, dass eine Blutvergiftung (Sepsis) nur durch einen rostigen Nagel entstehen kann. Eine Sepsis kann jeden treffen und beginnt immer mit einer Infektion und endet in so vielen Fällen tödlich, weil sie unerkannt bleibt! Ich möchte mit meinen Möglichkeiten darüber aufklären, so gut es geht.

Fotografin: Wie kam es bei Dir zur Sepsis und was hat sie verändert?

Heike: Der genaue Grund ist nicht eindeutig zu benennen. Es war eine Tröpfcheninfektion durch einen Insektenstich oder durch die Übertragung von einem Kleinkind. Ich habe 2021 aufgrund von 100%-Kurzarbeit durch Corona meinen Job gekündigt und bin in die Schweiz auf eine Alp zum Arbeiten gegangen. Ich dachte mir, dass ich in der Einöde auf 1800 m nur mit dem Bauern und den Tieren Corona aus dem Weg gehen kann. Wie schon erwähnt, habe ich keine Milz mehr und bin dadurch anfälliger für Krankheiten. Nach 4 Wochen regnerischem und kühlem Wetter habe ich Donnerstag nach dem Melken beim Frühstück extrem starke Schluckbeschwerden bekommen. Freitags kam Schüttelfrost dazu und am Samstag hatte ich Schmerzen im linken Oberarm, konnte nicht mehr auf meinem linken Bein stehen. Mehr weiß ich nicht mehr, da ich samstags irgendwann weg war. Aus Erzählungen weiß ich, dass der Bauer und die Bekannten, die freitags angereist sind, mich samstags ins Krankenhaus fahren wollten. Da ich aber wesensverändert und verwirrt war, haben sie die Schweizer Flugrettung Rega angerufen. Die Besatzung der Rega hat mich ins Luzerner Kantonsspital geflogen. Dort die erste Nacht im Schockraum, anschließend 5 Tage auf der Intensivstation und noch weitere 5 Wochen auf der Kardiologischen Station. Ich hatte eine Sepsis, dadurch eine Mitral- und Aorten-Herzklappenentzündung (Endokarditis). Durch die Embolien bekam ich mehrere Schlaganfälle und Nekrosen (Absterben von Zellen/Gewebe) an den Fingern, am linken Oberarm, an der linken Hüfte und an beiden Füßen / Sprunggelenken.

Fotografin: Du hattest mehrere OPs in der Zeit?

Heike: Die ersten Operationen an den Füßen und Knien habe ich nicht mitbekommen. Ich war in einer anderen Welt. Ich habe nur sehr wenig Erinnerungsfetzen von der Zeit und selbst bei den weiß ich nicht, ob sie real sind. An die letzte OP kann ich mich sehr gut erinnern, da ich bereits auf der Kardiologischen Station lag. Ich wusste zwar immer noch nicht, was mit mir passiert war, aber der Chirurg erzählte mir etwas von Amputation meiner kleinen Fußzehen und Komplikationen der letzten OP. Irgendwie hatte ich Angst vor der OP. Ich durfte nur auf dem Rücken liegen, damit die Entzündungsflüssigkeit von den Füßen nicht wieder zum Herzen zurückfließt und eine erneute Sepsis in Gang bringt. Dazu Schläuche im Hals, Hände, Füße, Knie… Die dritte OP ist gut verlaufen, aber das Liegen hat mir zu schaffen gemacht. Meine Füße waren in Gipsschienen, damit sie den 90° Winkel behalten und ich keine Spitzfüße bekomme. Das wäre später, wenn ich wieder laufen lerne, extrem von Nachteil.

Es ist eine lange Geschichte. Ich habe alles in meinem Buch „Überlebenskampf Sepsis“ niedergeschrieben.

Fotografin: Wie geht es Dir heute mit den Narben – äußerlich und innerlich?

Heike: Diese Narben machen mir zu schaffen. Wobei es nicht nur die Narben von den Operationen sind, sondern eher die Narben von den verheilten Nekrosen. Im Gegensatz zu den OP-Narben, die bewusst und kontrolliert entstehen, verheilt eine Nekrose wie sie möchte. Somit entstanden Taubheitsgefühl, Missempfinden, Empfindlichkeiten bei Berührungen, Schmerzen. Durch die Kombination von OP-Narben und Nekrosen sind Verklebungen entstanden. Durch die sichtbaren und unsichtbaren Narben in den Füßen habe ich Bewegungseinschränkungen und Schmerzen bekommen.

Durch die beidseitige Herzklappenentzündung sind die Herzklappen in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich kann von Glück sagen, dass ich noch meine beiden eigenen Herzklappen habe. Meine Herzleistung hat sich durch die Sepsis reduziert. Ausdauer und Belastung sind anstrengend für mich geworden.

Die ganze Situation mit einer lebensbedrohlichen Sepsis hat mich und meine Familie verändert. Wieder einmal ist uns bewusst geworden, dass das Leben innerhalb kürzester Zeit zu Ende sein kann. Meine Füße sind und werden nie mehr die, die sie früher waren. Ich lebe bewusst jeden Moment mit meinen Füßen, nicht nur, weil sie schmerzen und andere Herausforderungen für mich jederzeit bereit halten, sondern weil ich mittlerweile weiß, wie knapp ich einer beidseitigen Unterschenkel-Amputation entgangen bin. Auch die beidseitige Amputation meiner beiden kleinen Zehen ist nicht Realität geworden. Das ist ein Geschenk, an das mich meine Narben an den Füßen immer erinnern werden.