Es ist Samstag, halb 12. Mein Wohnzimmer ist inzwischen zum Studio umgebaut. Die wilde Bande habe ich zur Oma geschickt, denn heute besucht mich Jasmin. Sie ist die erste „Fremde“ in diesem Projekt. Ich freue mich, und bin gleichzeitig sehr gespannt, wer da wohl kommen wird. Gerade will ich mir nochmal ihre Sprachnachrichten anhören, da klingelt es. Jasmin kommt herein geweht. Sie ist fröhlich, voller Energie und – das ist mein erster Gedanke – ihr Profilbild in Facebook wird ihr keineswegs gerecht! So eine Schönheit!
Das Eis ist sofort gebrochen, wir reden, essen Pizza, lachen …
NAME: Jasmin
OP-ALTER: 21 Jahre
DIAGNOSE: Vorhofseptumdefekt (Loch im Herz)
Jasmin: Ich bin mit einem Loch im Herzen geboren. Das Loch ist in der Herzscheidewand, also zwischen den beiden Vorhöfen. Tatsächlich kommt das gar nicht so selten vor. In vielen Fällen wächst das Loch noch zu. Bei mir hat es das nicht getan. Ich habe 21 Jahre damit gelebt. Durch dieses Loch ist immer etwas ungereinigtes Blut ins saubere Blut geflossen. Für mich hatte das zur Folge, dass ich nicht so konnte, wie ich wollte. Ich war kurzatmig, musste beim Sport ständig abbrechen. Es fühlte sich an wie eine Behinderung.
Erst durfte ich nur eingeschränkt Sport machen. Aber ich war schon immer ein Wirbelwind. Ich bewege mich einfach unheimlich gern. Deshalb hab ich das mit dem „eingeschränkt“ nicht so hingekriegt und habe ständig meine Grenzen überschritten. Der Arzt hat irgendwann gesagt: „Wir müssen Dich komplett vom Sport befreien“ und hat mir ein Attest geschrieben.
Fotografin: Wieso wurdest Du erst mit 21 operiert?
Jasmin: Naja, man schaut sich immer bestimmte Werte an, ob alles „im Rahmen“ ist. Irgendwann hat es nicht mehr funktioniert, und die Thrombosegefahr war zu hoch, sodass ich schlussendlich doch im OP gelandet bin. Am Anfang hab ich mir schon Sorgen auch um´s Aussehen gemacht: Oje, da werde ich vorne am Brustkorb aufgeschnitten und habe eine riesige Narbe. Aber dann kam ich zu einem Arzt, der ein anderes OP-Verfahren nutzte. Bei dieser Methode wird unterhalb der Brust aufgeschnitten. Für mich war das die angenehmere Variante, denn das kann man einigermaßen mit dem BH bedecken.
Fotografin: Wie ging es Dir vor der OP?
Jasmin: Äußerlich war ich ruhig. Aber innerlich war ich total angespannt und ängstlich. Das Schlimmste war für mich, als der Arzt sagte: „Erschrecken Sie nicht, wenn Sie wach werden und den Beatmungsschlauch noch im Mund haben. Wenn wir merken, Sie sind stabil, machen wir den raus.“
Du kannst Dir denken: Natürlich bin ich aufgewacht und der Schlauch war noch drin! Ein Alptraum! Irgendwann bin ich so in Panik geraten, dass ich auf den Schlauch draufgebissen habe und in einen Schockzustand gefallen bin.
Die OP selbst ist nicht ganz nach Plan verlaufen. 3x ist meine Lunge kollabiert. Aber schließlich haben sie es geschafft, das Loch zu stopfen.
Fotografin: Wie hat sich Dein Leben nach der OP verändert?
Jasmin: Als ich aufgewacht bin, hatte sich erstmal spürbar nichts verändert, und doch hatte sich alles verändert. Es war ganz komisch. Ich hatte mein Leben lang mit diesen Einschränkungen gekämpft. Und auf einmal dufte ich alles. Ich durfte wieder Sport machen – so viel ich wollte.
Und auch meine Beziehungen haben sich sehr verändert.
Ich war vorher immer für Jeden da, wollte immer, dass Jeder um mich herum happy ist. Ich habe nie „Nein“ gesagt. Und musste dann nach meiner OP feststellen, dass keiner meiner Freunde für mich da war. Niemand hat nachgefragt.
Ich bin sehr, sehr tief gefallen.
In dem Moment, als ich meine Freunde am meisten um mich herum gebraucht hätte, waren sie nicht da. Das war eine bittere Erfahrung, die mich sehr verändert hat. Da sind noch mehr Narben entstanden – Narben auf der Seele, die man nicht sehen kann.
Meine Familie und mein Freund – der heute mein Mann ist – waren aber immer für mich da. Das hat mir Kraft gegeben.
Fotografin: Wie geht es Dir heute – mit den Menschen und mit Deiner Narbe?
Jasmin: Am Anfang habe ich mich sehr geschämt für meine Narben. Ich wollte nicht mehr ins Schwimmbad, nicht mehr in die Sauna. Aber mit der Zeit wurden die Narben blasser und ich habe gelernt, damit zu leben. Inzwischen kann ich auch darüber reden.
Insgesamt glaube ich, dass ich mich sehr stark verändert habe. Ich bin stärker, selbstbewusster geworden. Die Narben sind ein Teil von mir geworden. Die Narbe von der Herz-OP und die beiden kleineren unten drunter von der Drainage sind nicht meine einzigen Narben. In der Schwangerschaft hatte ich einen Nabelbruch, der operiert werden musste. Dann gibt es eine Blinddarmnarbe, auf der eine Leistenbruchnarbe sitzt. Außerdem Venenstripping … Ich bin ganz schön lädiert. Manchmal fühle ich mich wie ein Steiff-Bärchen, das zu viel geliebt wurde und schon oft genäht werden musste.
Fotografin: Was willst Du den Menschen mitgeben?
Jasmin: Seit der OP glaube ich auch daran, dass es keine Zufälle gibt. Ich glaube, dass Menschen aus einem bestimmten Grund in mein Leben treten. Seitdem begegne ich Menschen anders. Ich weiß jetzt, dass man Menschen nicht mehr nach dem ersten Eindruck beurteilen sollte. Ich bin offener und verurteile sie nicht mehr. Die ersten 20 Sekunden einer Begegnung sind entscheidend – diesen Spruch finde ich heute totalen Quatsch. Man weiß nie, in welcher Situation ein Mensch gerade steckt. Deshalb versuche ich immer, den Menschen ein Lächeln zu geben. Es kann so viel verändern!
Behandle den Menschen, dem Du begegnest, mit Würde und Respekt! Du kannst der Auslöser dafür sein, dass er sein Leben weiterleben möchte.