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#22 - Wendepunkte

Man sagt, jeder Künstler hat seine Muße. Jules ist meine.

Wir kennen uns seit vielen Jahren. Als ich nach meiner theologischen Ausbildung wieder anfing zu fotografieren, stand sie mir oft Modell. Wir haben viel ausprobiert, haben Stunden mit Styling verbracht, um am Ende 2 Bilder zu haben. Und hin und wieder kamen wir mit einem Plan zusammen und hatten am Ende ganz andere Bilder im Kasten. Unter diesem Post findet ihr eine kleine Auswahl an alten Bildern.
Zwischenzeitlich ging mir Jules in Hamburg verloren. Aber nun endlich, nach 11 Jahren, haben wir uns anlässlich meines Foto-Projektes wieder getroffen – natürlich in Hamburg. Ich kam mit viel Equipment und Ideen im Kopf. Und dann war da dieses wunderschöne alte Treppenhaus …

NAME: Juliana
ALTER HEUTE: 37 Jahre
DIAGNOSE: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Selbstverletzendes Verhalten, ADS, Chronische Depression

Scheinbar wenige Narben sehen wir auf den Bildern. Ein paar zarte, verblasste Narben an ihrem rechten Arm (nun, sie ist Linkshänderin) von selbstverletzendem Verhalten. Es sind Geschichten aus ihrer Kindheit, die sie lange hinter sich gelassen hat. Das Paket, das sie aber noch immer mit sich rumträgt und von Zeit zu Zeit in Kliniken bewältigt, ist beachtlich. Borderline-Persönlichkeitsstörung, ADS, chronische Depressionen, kaum ausgeprägtes Selbstbild. Dazu hochsensibel und mit einem fotografischen Gedächtnis ausgestattet. Verschiedene Ausbildungen hat sie begonnen und wieder abgebrochen. Sie ist zum dritten Mal verheiratet. Es ist ein steiniger und herausfordernder Weg, der hinter ihr liegt. Aber wenn ich sie heute sehe, mit ihrer Tochter und ihrem Abschluss in der Tasche, weiß ich, dass sie wichtige Schritte gegangen ist und vieles geschafft hat, was vor Jahren nicht denkbar gewesen wäre.

Sylvia: Jules, wie hast Du das geschafft? Wie hast Du in all den Jahren Kraft gefunden, deinen Weg vorwärtszugehen und nicht aufzugeben?

Jules: Tja, das ist eine Frage, die ich immer noch nicht final beantworten kann. Am ehesten lässt sich wohl sagen, dass sowas wie Aufgeben einfach nie in Frage kam. Wie ein inneres Gummiband, das mich immer wieder vor und zurückschnellenlässt, mich aber regelmäßig wieder aufrichtet. Dann kommen neue Erlebnisse dazu, neue Menschen, die ich über die Jahre kennengelernt habe, immer wieder neue Ideen wie mein Leben aussehen könnte (viel dem ADS geschuldet, in langweiligen Routinen zu bleiben liegt mir nicht) und letztendlich auch meine Tochter, der ich einen gesünderen Start in ihr Leben versprochen habe. Sie hat viel dazu beigetragen an manchen Stellen das erste Mal am Ball zu bleiben und etwas zu beenden. Aber auch die richtige Einstellung auf Medikamente, spielen da eine Rolle.

Sylvia: Magst Du uns ein paar Worte zu Deinen Erkrankungen sagen?

Jules: Alle oben genannten Diagnosen kamen nacheinander. Dass ich krank bin, wusste ich bereits sehr früh im Alter von 12 Jahren. Bis aber die erste Diagnose gestellt wurde, vergingen viele Jahre. Mit 23 Jahren erhielt ich die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. 12 Wochen stationärer Krankenhausaufenthalt machten dies möglich. Ebenso wurden nebenbei viele kleine Diagnosen als “Begleiterscheinung” gestellt. Angststörung, Essstörung aber auch schon der erste Verdacht auf mein Aufmerksamkeitsdefizit.

Als ich mich eingewiesen habe, war ich selbstmordgefährdet, verletzte mich selbst, konnte seit Monaten nur stundenweise schlafen, stand sprichwörtlich immer unter Strom, konnte keine Gefühle benennen, hatte keinen Zugang zu mir selbst als Person. Keine Idee davon, wer ich bin, was ich an positiven Eigenschaften zu bieten habe, keine Ahnung wie andere Menschen mich sehen oder wie ich gesehen werden will. Ich hatte Angst vorm allein sein, immer und überall. Ging immer wieder verschiedene Kontakte ein, nur um dies zu vermeiden. Meine Stimmung wechselte im Stundentakt, konnte an kleinsten Dingen wirklich komplett drehen. Ich hatte keine Lösungen, um irgendetwas davon besser zu machen. 12 Wochen später hatte ich verschiedene Medikamente an der Hand und viele der Zustände verbessert. Ich hatte gelernt, etwas besser mit mir selbst auszukommen und mich besser zu verstehen. Aus einer anfänglich einfachen begleitenden Depression wurde eine chronische Depression, die bis heute lediglich in der Intensität wechselt. Aber in einer leichten Form mein Leben dauerhaft bestimmt. Die damalige Krankheitsphase ging insgesamt 4 Jahre, so dass ich erst mit 27 Jahren zurück ins Berufsleben kehren konnte.

Die Diagnose ADS stand in diesen vielen Jahren immer wieder im Raum und wurde mit 30 Jahren endgültig bestätigt und seitdem auch mit Medikamenten behandelt. Erst die Klärung dieser Problematik machte es möglich, einen Berufsabschluss im Jahr 2019 zu erhalten und seitdem eine stabile Arbeitsleistung an den Tag legen zu können. Viele Symptome des Syndroms begleiten mich aber weiterhin und dauerhaft und lassen sich auch nicht mit Tabletten behandeln.

Eine durchgehende innere Unruhe begleitet mein Leben, das Denken von immer mindestens 3 Gedankengängen gleichzeitig macht es schwer, mich selbst zu fokussieren. Neu gefundene Interessen, sind nach spätestens 3 Monaten nicht mehr interessant. Schüttet altbekanntes doch keine Glückshormone mehr aus. Etwas in mir ist immer auf der Suche nach Reizen, um Glück zu empfinden.

Jules: Nach fast 25 Jahren mit Erkrankungen bekomme ich immer wieder die Frage gestellt, wie ich denn in all dem immer noch positiv sein kann, wie ich jahrelang als Model arbeiten konnte, wie ich in all meinen Störungen nicht irgendwann ganz aufgegeben habe. Es war ein langer Prozess zu lernen, dass ich die vielen positiven Eigenschaften dieser Erkrankungen ehren kann. Es ist ja nie immer nur alles negativ. 

Ich bin zum Beispiel sehr kreativ und immer neugierig, Neues auszuprobieren. Ich kann mich gut in Menschen reinversetzen und die aufspüren, die ein ähnliches Leben wie ich haben. Ich gehe offen und ehrlich mit meinen Erkrankungen um und man kann mich immer um Hilfe und Rat bitten. Ich bin gern bei der Sache, wenn mich ein Thema richtig erwischt und kann 100% Euphorie einbringen und alle mitreißen. Ich habe eine Tochter zur Welt gebracht. Sie ist mit ihren 10 Jahren ganz ähnlich gestrickt wie ich und geht auch bereits einen psychiatrischen Weg. Auf diese Weise wird sie gut aufgefangen und lernt frühzeitig, mit ihren besonderen Gaben/Herausforderungen gesund umzugehen. Ihr kann ich mit meinen Erfahrungen eine super Hilfe sein, ihr die Welt, die Menschen und deren Verhalten erklären, weil ich durch all diese Täler gegangen bin, und schon dafür lohnt es sich jeden Tag, Medikamente zu nehmen und stetig an diesem Leben teilzuhaben.

Sylvia: Was möchtest du den Lesern noch mit auf den Weg geben? Was sollte man im Leben unbedingt beherzigen?

Jules: Umgib Dich mit Menschen, die dich verstehen und so nehmen wie du bist. Such danach, auch wenn das manchmal ´ne Weile dauern kann. Wenn du ein stabiles Umfeld hast, das dich lehrt, dass Fehler verziehen werden. Dass Jeder mal außer Rand und Band ist und dass ein Special Effekt heute ätzend und morgen bereichernd sein kann … Dann kannst du heilen und lernen, dir selbst zu vertrauen.

Sucht euch Hilfe, wann immer ihr das Gefühl habt, den Halt zu verlieren. Wenn euch negative Gedanken belasten, ihr den Antrieb zum Start in den Tag verliert oder euch von lieben Menschen zurückziehen wollt. Hebt die Hand und sucht euch Hilfe. Es wird dann besser, versprochen.

Und hier kommen noch die versprochenen „alten“ Bilder.