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#13 - verstehen und verstanden werden

„Wo sich deine Talente mit den Bedürfnissen der Welt kreuzen, dort liegt deine Berufung.“ (Aristoteles)
Und diese Berufung lebt Thomas. Wenn er am Klavier sitzt, fliegen seine Hände über die Tasten, als wäre es ein Kinderspiel. Ich liebe es, ihm zuzuhören. Er hat eine großartige Begabung, Menschen durch die Musik im Herzen zu berühren. Es ist, als könne man ein Stück Himmel erahnen. Thomas ist Musiker durch und durch. Er spielt Orgel, Klavier, dirigiert einen Chor und ein Chorensemble, singt selbst als Tenor in verschiedenen Chören. Und von außen betrachtet scheint alles perfekt zu sein. Was man nicht sieht, sind seine Einschränkungen.

NAME: Thomas
OP-ALTER: 1 Jahr
DIAGNOSE: Gaumenspalte (später noch teilweise Taubheit und Tinnitus)

Thomas: Ich wurde mit einer Gaumenspalte geboren. Mit einem Jahr wurde ich operiert, sie wurde weitestgehend verschlossen. Das war meine erste, ganz frühe Narbe. Aber ganz verschlossen werden kann so eine Gaumenspalte nicht. Mir fehlt das Gaumenzäpfchen, das den Schluss Richtung Nase hin reguliert. Daher war Artikulieren immer eine Herausforderung für mich und ist bis heute mit einem gewissen Grundstress verbunden. Anfangs hat mir diese Spalte keine Probleme bereitet. Laut meiner Mutter hat man die ersten Jahre gar nichts gehört. Im Alter von 5 Jahren hatte ich eine Mandelentzündung und die Mandeln wurden operativ entfernt. Ab diesem Moment fing die nasale und sehr veränderte Aussprache an. Natürlich gab es da Behandlungen. Meine Mutter hat mich wöchentlich weite Strecken zur Logopädie gefahren. Meine Eltern haben viel Energie und Zeit investiert, dass für mich eine Besserung eintritt.

Sylvia: Wie möchtest Du, dass über Deine Gaumenspalte geredet wird? Was sagst Du selbst dazu? Ist es eine Einschränkung, ein Makel? Nutzt du selbst den Begriff „Behinderung“?

Thomas: Es ist mir wichtig, dass „Behinderung“ nicht abwertend oder gar als Schimpfwort verwendet wird. Ich plädiere sogar dafür, mit dem Begriff sehr entspannt umzugehen. Denn eigentlich möchte er sagen: Achtung, nimm Rücksicht, da ist ein Hindernis! Trotzdem passiert es mir auch heute noch, dass Leute, sobald sie mich zum ersten Mal hören, verwirrt schauen oder das Gesicht verziehen. Das versetzt mir natürlich immer einen kleinen Stich. Aber letztendlich war es sehr wichtig für mich zu lernen, damit umzugehen, es anzunehmen und es gewissermaßen zu überwinden. Mich davon nicht begrenzen zu lassen. Vor einen Chor hinzustehen und ihn zu leiten ist an sich ja schon eine Herausforderung – erst recht mit einer sprachlichen Behinderung. Letztlich musste ich selbst lernen, mit den eigenen Ängsten konstruktiv umzugehen.

Sylvia: Wie hast Du diesen Schritt geschafft?

Thomas: Zuerst habe ich gelernt, Dinge einfach selbst zu machen. Meine Eltern waren keine Helikoptereltern, die mich in Watte gepackt haben. Wenn ich etwas wollte, musste ich selbst dafür einstehen. Das „selber Laufen lernen“ war eine Grundhaltung in unserer Familie. Beispiel: Wenn ich auf dem Volksfest etwas wollte, musste ich losgehen und es selbst bestellen.

Sylvia: Damit ist deine Geschichte aber noch nicht zu Ende, nicht wahr? Da gibt es noch mehr.

Thomas: Als ich 6 oder 7 war, kam es zu Wucherungen in meinem linken Ohr, die ebenfalls operiert werden mussten. So bin ich leider auf dem linken Ohr stark schwerhörig. Vor etwa drei Jahren kam dann auf dem rechten Ohr ein Tinnitus dazu. 4 Monate zuvor hatte ich einen Ohreninfekt. Die Eustachische Röhre konnte ihre Belüftungsfunktion nicht mehr wahrnehmen, und der Raum hinter dem Trommelfell lief voll. Das konnte nur noch durch ein Durchstechen des Trommelfells gelöst werden. Es hat lange gedauert, bis es abgeheilt war und dann eines Abends war plötzlich das Ohrsausen da.

Sylvia: (Plötzlich fühle ich mich an einen sehr bekannten Komponisten erinnert. ;-)) Wie muss man sich das genau vorstellen? Ist das ein definierbarer Ton? Und stört es dich beim Musizieren?

Thomas: Es ist eher ein hohes Säuseln. Tatsächlich hatte ich schon als Kind immer wieder Fieptöne im Ohr, die mich richtig gequält haben. Ich habe Tränen geweint deswegen. Damals schon habe ich gelernt, dass ich da weghören muss. Das Gehirn filtert ja schon unheimlich viel weg im Alltag. Der einzig richtige Prozess für mich im Umgang mit einem Tinnitus, der nicht weggeht ist: Akzeptanz. Da ist etwas, aber es hat keinen Informationswert. Es ist irrelevant. Und dann schaffe ich es ziemlich gut, das auszublenden.

Sylvia: War die Musik eine Art Puffer für dich? Wie bist Du zur Musik gekommen?

Thomas: Ich verdanke sehr viel den Eltern. Das ist gar nicht genug hervorzuheben. Im Elternhaus wurde unheimlich viel gesungen. Das hat mich und meine Geschwister stark geprägt und hat uns viel gegeben. Die Musikalität war somit in die Wiege gelegt. Mit 5/6 Jahren kam dann die Melodika. Das war sozusagen meine erste Klaviatur. In der Grundschule hatte ich das Glück, dass wir eine sehr engagierte Lehrerin hatten, die auf Musik viel Wert legte und mit der ganzen Klasse Blockflöte gelernt hat. Diese Grundschullehrerin hat mir dann deutlich empfohlen, auf ein Gymnasium mit Schwerpunkt Musik zu gehen. Dort konnte man alle Wunschinstrumente lernen. Klavierunterricht hatte ich ab der 5. Klasse. In der 7. Klasse durfte ich als Zweitinstrument dann Orgel wählen. Ich konnte auf dem Gymnasium verschiedene Instrumente ausprobieren, aber Klavier und Orgel, das waren einfach meine Instrumente.

Mit 15 Jahren habe ich dann meinen ersten Chor geleitet.

Ja, vielleicht war tatsächlich die Musik ein anderer Weg für mich, mich zu artikulieren. Eine andere Chance, sich auszudrücken und zu kommunizieren. Neben der Sprache hat die Musik so viel mehr Potenzial, Emotionen auszudrücken. Ob ich sage: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehre“ oder ob ich es singe (und er fängt an in glockenhellem Tenor zu singen), macht einfach einen Unterschied.

Ja, ich glaube, Musik öffnet mir eine Tür, von Menschen besser verstanden zu werden.

Eine ehrliche Offenheit, ein Zuhören mit dem Herzen, das wünsche ich mir für unsere Gesellschaft.