Es sind Sommerferien. Meine Jungs und ich treffen Frank im Garten meiner Schwiegereltern.
Frank ist ein warmherziger, sympathischer Mensch. Meine Jungs sind natürlich neugierig und wollen auch mal gucken.
„Kinder sind übrigens die Einzigen, die fragen! Die sind noch unvoreingenommen. Die meisten gucken nur.“ Das glaube ich sofort und fühle mich ertappt. Ich bin Frank in den letzten Jahren immer mal wieder begegnet. Aber auf sein Auge hab ich ihn nie angesprochen. Obwohl es offensichtlich ist, dass seine Augen nicht identisch funktionieren. Aber dank des Fotoprojekts kann ich nun neugierig wie ein Kind nachfragen …
NAME: Frank
Alter Bei Verletzung: 43 Jahre
DIAGNOSE: Verlust eines Auges durch Silvesterknaller
Sylvi: Frank, sag mal, was ist genau passiert?
Frank: Es war 2009 – ein Jahr, in dem ich viel beruflich unterwegs war. Nach fast zweieinhalb Monaten in der Schweiz bin ich kurz vor Heiligabend dann nach Hause gefahren. Es war alles etwas turbulent. An Silvester waren wir dann mit 20 bis 25 Leuten zusammen, die gemeinsam gefeiert haben. Um Mitternacht sind wir auf eine große Wiese gegangen, schön mit Blick über Heilbronn. Ein paar hatten Raketen dabei und haben ein bisschen geböllert. Ich hatte schon viele Jahre nichts mehr abgeschossen – mir war das immer zu gefährlich. Es war mittlerweile halb 1, eigentlich war alles schon vorbei. Wir standen noch zusammen und haben einen Sekt getrunken. Plötzlich flog mir seitlich etwas ins Auge rein, hat mir den Augapfel aufgeschlitzt und ist dann an der Nase abgeprallt. Ich weiß bis heute nicht, was es genau war. Es war nicht hell, muss irgend so ein Heuler gewesen sein. Was Kleines.
Ich hab dann zu meiner Freundin gesagt: „Ich glaube, mir ist gerade das Auge raus gefallen.“ Und im Grunde war es auch so. Der Böller hat mir 3 cm tief das Auge aufgeschlitzt und alles was innen war, ist raus gekommen.
Sylvi: Ich mag mir gar nicht ausmalen, was das für Schmerzen gewesen sein müssen …
Frank: Tatsächlich hatte ich gar keine Schmerzen. Ich weiß nicht, vielleicht war es eine Art Abwehrreaktion des Körpers, Verdrängung, Selbstschutz. Aber es tat nicht weh. Die einzigen Schmerzen hatte ich dann im März, als ich operiert wurde.
Frank: Es hat eine viertel Stunde gedauert, bis der Krankenwagen kam. Der hat mich durch Heilbronn in den Gesundbrunnen gefahren. Die Begrüßung des Arztes war: „Es ist jedes Jahr an Silvester einer, der sein Auge verliert. Und in diesem Jahr sind Sie es.“
Ich wurde dann untersucht und unter Narkose versorgt.
Als ich am nächsten Morgen im Krankenzimmer aufgewacht bin, schossen mir natürlich viele Gedanken durch den Kopf. Der erste Gedanke war „Jetzt bin ich ein Krüppel!“ Der 2. Gedanke folgte direkt: „Aber, ich habe keine lebensgefährliche Krankheit. Ich kann damit leben.“ Das war das erste Resumé, das ich im neuen Jahr gezogen habe. Kein guter Start.
Ich war insgesamt 10 Tage im Krankenhaus. Dann wurde ich entlassen mit der Aussage: Es ist nicht reparabel.
Und dann stehst Du da, mit einem Auge. Und musst plötzlich zweidimensional in einer dreidimensionalen Welt zurechtkommen. Keiner bereitet dich drauf vor. Und mich hat keiner gefragt, wie´s mir damit geht – psychologisch. Da bräuchte es viel mehr Begleitung. Wir sind medizinisch so weit fortgeschritten heute, aber dass die Seele da gar nicht hinterher kommt, das interessiert (aus medizinischer und wirtschaftlicher Sicht) Niemanden.
Kurz drauf zeigt mir Frank seine Prothesen. Eine für jedes Jahr, denn sie nutzen sich ab, werden rau und reiben im Auge. Es ist eine Halbschale aus Glas, die ähnlich wie eine Kontaktlinse auf das Auge drauf gesetzt wird. Nur größer und dicker.
Sylvi: Wann hast Du denn deine Prothese bekommen?
Frank: Im März wurde ich operiert. Es wurde eine Silikonkugel in das Auge eingesetzt, um die Augenhöhle zu erhalten. Die Muskeln außen dran sind noch da, daher bewegt sich der Glaskörper auch immer ein bisschen mit, wenn ich meine Augen bewege.
Sylvi: Hast Du die Prothese immer drin?
Frank: Anfangs ja. Das erste halbe Jahr hatte ich sie komplett drin. Aber dann wurde es unbequem. Am Ende bleibt es ein Fremdkörper, den ich da im Auge habe. Mittlerweile nehme ich sie jeden Abend raus. Und jedes Jahr wird ein neues Auge hergestellt, weil es sich eben abnutzt.
Die Herstellung ist echt spektakulär. Das macht ein Glasbläser, der gleichzeitig Augenarzt ist. Ein richtiger Augenkünstler. Erst schaut er, was Du für eine Augenfarbe hast. Dann kommt er mit einer Schachtel mit der Kugel – wie ein Juwelier mit Hochzeitsringen. Die Iris ist auf der Glaskugel schon drauf, das macht er im Vorfeld. Dann heizt er ein und bläst aus der Kugel die Halbschale. Das macht er direkt vor Deinen Augen. Das Ganze dauert ungefähr eine halbe Stunde. Rote Adern macht er beim Blasen auch noch mit rein und orientiert sich dabei an deinem anderen Auge. Die Augen sehen von Jahr zu Jahr besser aus (lacht).
Sylvi: Frank, wie hat sich Dein Leben seit dem Unfall verändert? Siehst Du den Raum noch als solchen, weil dein Gehirn es seit Jahren kennt und ausgleichen kann? Oder ist das ein richtiges Problem geworden?
Frank: Im Grunde hat sich ganz viel verändert. Ich war vorher als Photovoltaikplaner oft auf Dächern unterwegs. Das kann ich jetzt nicht mehr machen, weil ich kein räumliches Sehen mehr habe.
(Er schaut auf das Haus meiner Schwiegereltern) Ich seh das Haus noch so, wie es da steht. Aber ich kann die Entfernung dorthin nicht mehr richtig einschätzen. Das macht sich natürlich in allen Alltagsdingen bemerkbar. Gartenarbeit zum Beispiel: Ich tu mich unheimlich schwer, mit einer Astschere etwas abzuschneiden, weil ich die Tiefe nicht mehr sehe. Ich treffe einfach nicht. Oder Kabel in Steckdosen stecken: Klappt einfach nie. So simple Dinge, über die man sich mit 2 gesunden Augen überhaupt keine Gedanken macht. Beim Autofahren ist es auch schwierig – vor allem beim Parken. Ich denke, ich bin schon in der Parklücke, dabei sind nach vorn noch 2 Meter Platz.
Oder wenn ich den Schrank öffne, und lauter schwarze T-Shirts aufeinander habe, sehe ich nur eine schwarze Masse.
Sehr unangenehm kann es werden, wenn ich unter Menschen bin. Wenn links von mir Jemand sitzt, ist der quasi in meinem toten Winkel. Den nehme ich nicht wahr. Das mag ich gar nicht.
Und unterwegs: Es kann schon mal passieren, dass Jemand links an mir vorbeiläuft, den ich anrempel – einfach, weil ich ihn nicht sehe. Die Leute halten mich dann vielleicht für ignorant, weil sie meine Geschichte nicht kennen.
Aber in all den Schwierigkeiten kann ich sagen: Mir ist heute bewusster, dass es Grenzen gibt – ich lebe bewusster und mache mir mehr Gedanken darum, wie ich meine Zeit gestalte.